Zwei Wege zum Ziel
Das Stuttgarter Karls-Gymnasium hat als eine der ersten Schulen Westdeutschlands das Abitur nach der zwölften Klasse erprobt. Doch nur wenige Schüler eignen sich für das Kurzmodell.
Schon als Knirps kapierte Constantin alles ein bisschen schneller als seine Mitschüler. Sein Grundschullehrer wandte sich an die Eltern: Er könne diesem Kind kaum gerecht werden, Constantin müsse im Unterricht öfter mal eine halbe Stunde ruhig in der Ecke sitzen.
Zu Hause nervte der Junge seine Eltern mit unstillbarem Wissensdurst. „Er hat unheimlich viel gefordert“, erinnert sich Anette Brecht-Fischer, Constantins Mutter. „Jedes Wochenende mussten wir mit ihm in irgendein Museum fahren, ständig Wissen nachfüttern.“
Inzwischen ist Constantin 17. Im Sommer wird er sein Abiturzeugnis in Händen halten – mit dem Zusatz: „Diese Hochschulreife wurde im achtjährigen Bildungsgang erworben“. Er ist einer der ersten Absolventen eines Schulversuchs, der seit Anfang der neunziger Jahre am Stuttgarter Karls-Gymnasium läuft.
Besonders begabte Kinder, die sich im regulären Unterricht langweilten und unterfordert fühlten, können dabei das Gymnasium in acht statt der üblichen neun Jahre hinter sich bringen.
„Es war schon meine eigene Entscheidung, auf diese Schule zu wechseln“, sagt Constantin. Um den schnellen Weg zum Abi zu gehen, nahm er auch den langen Anfahrtsweg aus einem Stuttgarter Vorort zur Schule in der Innenstadt in Kauf.
Hartmut Schmid, Schulleiter am Karls-Gymnasium, hat den Modellversuch 1991 zusammen mit dem Lehrerkollegium aufgebaut. „Damals war das total gegen den Trend“, erzählt er. „Es hatte natürlich den Ruch der Elitenbildung, und dieser Begriff war noch viel negativer besetzt als heute.“
So mussten sich Eltern und Lehrer viel Kritik gefallen lassen. Kollegen an an- deren Schulen äußerten sehr deutlich ihre Missbilligung, und manche Eltern wurden auf der Straße gefragt, wie sie ihren Kindern so etwas antun könnten. „Das ging so weit“, berichtet Schulleiter Schmid, „dass auf einmal wildfremde Leute ins Klassenzimmer stürmten und sagten: ‚Wir wollten nur mal gucken, wie die aussehen.‘“
Das passiert längst nicht mehr. Als im vergangenen Jahr die erste „Turbo-Klasse“ entlassen wurde, schaute wieder einmal die Lokalpresse herein und notierte Abi-Schnitte. Doch ansonsten gehören die Modellklassen zum ganz normalen Schulalltag. Eine so genannte G8-Klasse gibt es pro Jahrgang. Parallel dazu läuft weiterhin das übliche Programm: neun Jahre bis zur Hochschulreife.
Ein Versuch ist G8 mittlerweile auch nicht mehr. Im vergangenen Jahr hat der baden-württembergische Landtag beschlossen, das Modell als Option im Schulgesetz festzuschreiben. Theoretisch können nun alle Gymnasien im Land G8-Züge einrichten. Bislang haben sich knapp 50 Schulen dazu entschlossen.
Das Karls-Gymnasium selbst erweckt nicht den Eindruck, als geschehe hier etwas Besonderes. Ein wenig gepflegter vielleicht als manch andere Schule steht der helle Altbau im Zentrum Stuttgarts, doch im Inneren herrscht alles andere als akademische Ruhe. Kreischende Fünftklässler bevölkern die Flure; unmöglich zu entscheiden, ob sie dem G8- oder G9-Zweig angehören. Im Vorzimmer des Direktors türmen sich Koffer, Taschen und Musikinstrumente – der Aufbruch zur Orchesterfreizeit steht bevor.
Klassenfahrten, Chor- oder Orchesterfreizeiten sind am Karls-Gymnasium Gelegenheiten, bei denen sich G8- und G9-Schüler kennen lernen. Gemeinsam unterrichtet werden die Schüler erst in den letzten zwei Jahren vor dem Abitur, im Kurssystem der Oberstufe.
Doch es gibt keine Schwierigkeiten mit dem Nebeneinander der Systeme. „Wir haben hier einfach zwei Wege zu einem Ziel“, betont Schmid. Nur einmal, vor einigen Jahren, habe es böses Blut unter der Elternschaft gegeben – als nämlich der Plan diskutiert wurde, den G-8-Schülern Bonuspunkte bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) zu gewähren. Die Idee wurde verworfen.
Michael, 18, der im vergangenen Jahr sein G8-Abitur gemacht hat, fühlte sich in der Oberstufe auch unter G9-Schülern wohl. „Klar habe ich gemerkt, dass ich jünger war als die anderen“, sagt er. Aber ein Problem sei das nicht gewesen.
Fiona, 18, geht in die 13. Klasse des G9-Zugs und betrachtet ihre jüngeren Mitschüler nicht als Streber. Dass sie selbst 13 Jahre zur Schule gehen muss, bedauert sie nicht. „Es wird ja immer so viel von Studierfähigkeit geredet“, überlegt die Abiturientin, „da sollte man vielleicht statt einer Verkürzung lieber zusehen, dass die 13 Jahre Schulzeit besser genutzt werden.“
Der Lehrstoff des eingesparten Schuljahrs wird im G 8 auf die Unter und Mittelstufe verteilt. Der Fremdsprachenunterricht beginnt ein Jahr früher als für die G9-Schüler. Wie der G8-Unterricht jedoch wirklich ablaufen würde, das wusste zu Beginn des Schulversuchs keiner so genau. „Es war schon Pionierarbeit“, sagt Gudrun Klane-Kaiser, Lehrerin für Deutsch, Spanisch und Französisch. „Aber auf der anderen Seite hatten wir alle Freiheiten. Wenn wir gesehen hätten, dass das G8 keine Zukunft hat, hätten wir uns das eingestehen können.“
Etwa 20 Prozent eines Gymnasiasten-Jahrgangs bringen die nötigen Voraussetzungen für den gestrafften Bildungsgang mit. Das ist das Ergebnis einer jahrelangen wissenschaftlichen Evaluation des Stuttgarter Schulversuchs, die Kurt Heller, Psychologie-Professor an der Universität München, durchgeführt hat.
Bis zum Jahr 1997 brauchten G8-Anwärter noch ein besonderes Gutachten ihrer Grundschule. Inzwischen genügt die Gymnasialempfehlung; die Eltern können entscheiden, ob sie ihr Kind im G8 anmelden. Die neue Wahlfreiheit könnte zum Problem werden: „Seither hat sich die Zahl der Kinder, die eigentlich nicht ins G8 gehören, deutlich erhöht“, berichtet Lehrer Heiner Hoffmeister vom Karls-Gymnasium.
Auch deswegen sei es nötig, weiterhin beide Züge anzubieten. „Für die G8- Schüler ist es wichtig, dass sie nicht auch noch das Haus wechseln müssen, wenn sie nicht zurechtkommen“, meint Hoffmeister. Und Schulleiter Schmid ergänzt: „Wer vom G8 ins G9 wechseln muss, landet immerhin weich.“
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